Tobias Escher ist einer der Mitbegründer von Spielverlagerung.de und damit im Endeffekt Teilschuld an Halbfeldflanke. Über Spielverlagerung bin ich auf die Fußballtaktik gestoßen und weil die nur selten (für meine Begriffe zu selten) Schalke Spiele analysiert haben (weil Schalke Taktisch auch nur selten, zu selten, relevante Spiele abgeliefert hat), hab ich beschlossen dieses Loch zu stopfen. Da können Escher und Kollegen jetzt nix für, aber Zusammenhänge sind manchmal entscheidend zu betrachten. Nur wer die Einflüsse versteht, wird auch das Ergebnis begreifen, denn alles ist Kontextabhängig.
Und genau darum geht es in diesem Buch.

Fußball wird immer wieder aus verschiedenen Einflüssen und Ideen zusammenkompiliert. Besonders der deutsche Fußball, der sehr arm an eigenen Innovationen ist. Der Schalker Kreisel (auf den im Buch übrigens ausführlich eingegangen wird) ist die einzige deutsche Spielform die einen über die Region hinaus bekannten Eigennamen hat, und selbst das ist genau genommen eigentlich nur der schottische Kurzpass in königsblau.

Doch trotz der mangelnden Innovation gab es immer wieder lichte Momente im deutschen Fußball, in denen kluge Köpfe Fremdinnovationen verwurstet haben. Escher zieht hier den Vergleich zum Remixen, wie es Felix Jaehn tut. Das Buch bezieht sich ganz bewusst und explizit ausschließlich auf den (west-)deutschen Fußball und erklärt wo die verschiedenen Einflüsse darauf herkamen. Das alles über Ausflüge in das italienische Catenaccio und den niederländischen Totalen Fußball.

Dabei, und das ist angesichts der konfusen Entwicklung des Fußballs erstaunlich, verzettelt sich der Autor nicht. Der rote Faden des Buchs ist zu jeder Zeit klar erkennbar. Alles was erklärt wird, steht in direktem Bezug zum deutschen Fußball und diese Verbindungen werden didaktisch sauber aufgelöst. Dabei wird die Geschichte des Fußballs besonders an einigen ausgewählten Köpfen erzählt. So lernt der Leser Schlüsselfiguren des Fußballs zum einen besser kennen, zum anderen ist es einfacher der Entwicklung von Herberger zu Klopp zu folgen.

Einsteigergeeignet

escherDas Buch ist sehr sachlich, dabei aber auch immer wieder ausschmückend mit unterhaltsamen Anekdoten aus der Fußballhistorie. So beschreibt er etwa wie Franz Beckenbauer den Libero erfand, verfeinert mit Erzählungen vom Kaiser himself. Bei aller Theorie widmet sich das Buch besonders denen, die mit Fußballtaktik noch wenig zu tun hatten. Immer wieder gibt es etwa kleine Schaukästchen, in denen Begriffe erklärt werden und auch sonst werden Entwicklungen im Fußball sauber und verständlich hergeleitet.

Abgrenzung

Das Standardwerk wenn es um Fußballtaktik geht ist „Inverting the Pyramid“ von Jonathan Wilson. Und das wird es auch bleiben. „Vom Libero zur Doppelsechs“ unterscheidet sich grundlegend im Ansatz, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht gar nicht danach aussieht. In beiden Büchern geht es um die Geschichte der Fußballtaktik. Die Perspektive ist dabei jedoch eine komplett andere. Das eine (Pyramid) betrachtet die Geschichte des Fußballs in der Welt aus der Taktik heraus. Das andere (Libero) betrachtet die Taktik in Deutschland im Wandel der Geschichte. Selbstverständlich umreißen sie damit beide die gleichen Grundbewegungen (etwa das WM System oder den Schweizer Riegel), doch während Pyramid diese wie ein Geschichtsbuch abarbeitet (und dabei wunderschöne Bogen zwischen einzelnen Entwicklungen zieht), bringt Libero sie in den Zusammenhang mit der deutschen Taktik-Entwicklung und mit den Köpfen, die sie vorangetrieben haben.

Dadurch wirkt das Buch deutlich plastischer, nicht zuletzt weil ich den Scheitel von Günter Netzer vor’m geistigen Auge habe, den des sowjetischen Erfolgstrainers aus einer russischen Kleinstadt aber nicht. So hat jedes der beiden Bücher ihren eigenen Fokus, und dieser ist, bei aller Überlappung, ein bisschen der blinde Punkt des anderen. Das eine nicht zu lesen, weil das andere schon bekannt ist, gilt für Taktik-Interessierte mit Fokus auf den deutschen Fußball also nicht als Ausrede.

Übrigens reicht das Buch bis zum WM Titel 2014 und in die Bundesliga Saison 2015/2016. Besonders auf Löws Erfolge und wie es dazu kam und welche Rolle eigentlich Klopp und Guardiola dabei spielten wird im Buch eingegangen.

Der Autor

Als Mitbegründer von Spielverlagerung.de wurde Tobias Escher (zumindest mir) bekannt. Regelmäßig schreibt er Analysen und Artikel für die großen Verlage Deutschlands und ist inzwischen auch eine feste Größe in der Fußball-Welt von RocketBeansTV. Dies ist sein erstes großes Buch, meiner Meinung nach wird es sicher schnell zum Standardwerk für Fußballtaktik in Deutschland. Es holt den Leser ab ohne große Ansprüche zu stellen, bietet aber auch dem versierten Leser noch interessanten Input. Dabei ist es oft theoretisch, ohne aber trocken zu sein. Wenn in der Fußballberichterstattung in Deutschland jeder dieses Buch lesen würde, wäre die Welt ein besserer Ort.

Tobias Escher, 2016. Vom Libero zur Doppelsechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs.

4 Replies to “Tobias Escher: Vom Libero zur Doppelsechs

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