Plötzlich war Deutschland raus. Und während der Boulevard damit beschäftigt ist irgendwelchen Menschen irgendwelche Schuld in irgendwelche Schuhe zu schieben, möchte ich mich mal um eine Einordnung bemühen. Ich will dabei versuchen den Fußball als Gesamtkonstrukt zu sehen, was ja zum Scheitern verurteilt ist. Der Fußball ist viel zu vielfältig um ihn wirklich verallgemeinern zu können. Dennoch sind ein paar Strömungen erkennbar.
The Special One
In seinem Buch „Die Zeit der Strategen“ gewährt Tobias Escher detaillierte Einblicke in die Arbeitsweise von José Mourinho. Im Grunde genommen hat der Portugiese den Systematischen Fußball erfunden. Stark übertrieben jetzt, aber vor ihm wurden selten so viele wissenschaftliche Strömungen mit dem Fußball verwoben. Von Trainingssteuerung zur Gegneranalyse.
Mourinho stellte ein ganzes System zur taktischen Periodisierung auf, damit die Spieler das entworfene Spielkonzept strukturiert erlernen und eine Art Leitfaden an die Hand bekommen. Seine Analysen zeigten ihm wie der Energiehaushalt sinnvoll eingesetzt, wie taktische Vorteile verschafft und ausgenutzt werden können. Er spezialisierte seine Teams auf den Umschaltmoment, bevor es ein Wort dafür gab. Und so gewann er alles was es zu gewinnen gab.
Battle of the Umschaltmoment
Das ist jetzt schon eine ganze Weile her und inzwischen gibt es viele andere die seine Ideen weiterentwickelt und verfeinert haben. So ist das immer im Fußball. Und auch wenn Mourinhos Hochzeit jetzt schon ein bisschen her ist, die Bundesliga spielt gerade hauptsächlich Mourinho Fußball. Das Gros der Teams versuchen besser umzuschalten als die Gegner und deren Spiel ansonsten weitestgehend zu verhindern.
Die meisten Spiele der vergangenen Bundesliga Saison waren eher schwer zu ertragen. Da spielten zwei Teams die beide dem Gegner den Ball aufdrängen wollten und am liebsten nur 2 oder 3 Mal pro Halbzeit kontern wollten. Die Deutsche Tugend: Disziplin™ findet endlich einen neuen Anwendungsfall im Verschieben. Und alle machen mit. Also, fast.
Die Bayern, Hoffenheim, Barcelona, Arsenal… ein paar Ausnahmen gibt es wieder. Dazu kommen noch ein paar, die das mal hier und da im Ansatz probieren. Junge Trainer probieren sich mal dran aus, in der ersten Schwächephase wird dann aber oft zurück geschwenkt. Domenico Tedescos Schalke 04 der Saison 2017/2018 ist hier vielleicht ein ganz gutes Beispiel, das im laufe der Hinrunde mal dabei war Ballbesitzfußball zu etablieren, dann aber zu Beginn der Rückrunde auf Konterspiel zu setzen, als die Ergebnisse nicht so toll waren.
Fakt ist, dass die letzten 3 Jahre keine Ballbesitzmannschaft im Champions League Finale mehr stand, und sogar der DFB Pokal konnte jetzt von Eintracht Frankfurt so erobert werden.
Konterweltmeisterschaft
Das gleiche sehen wir gerade bei der WM in Russland. Die Teams, die richtig Fußballspielen wollen und den Ball dazu haben möchten, tun sich schwer. Brasilien, Deutschland und Spanien. Frankreich hat’s vielleicht am schlausten gemacht. Meine Theorie ist, dass Didier Deschamps sich bewusst war, dem hochqualitativen Kader eh keine Mechanismen eintrichtern zu können um tiefsitzende Abwehrblöcke zu sprengen, also macht er einfach das gleiche wie alle andern. Einen tiefsitzenden Abwehrblock bilden.
Die meisten Teams sitzen tief, versuchen das Spiel zu zerstören und auf dem Umschaltmoment zum Tor zu reiten. Bei Island ist das cool. Des Narratives wegen. Bei vielen anderen stößt es mir sauer auf, weil so viel mehr möglich wäre. Frankreich vorne weg. Letztlich ist Peru eine der coolsten Mannschaften, weil sie trotz arg niedriger Kaderqualität versucht mitzuspielen. Damit gehen sie aber unter. Alle anderen sind effektiver. Selbstverständlich ist das legitim. Nur eben ästhetisch kaum erträglich. Also, finde ich.
Das Land der Effizienz mit dem Effizienz-Problem
Ein paar Stunden ist es jetzt her, dass Deutschland ausgeschieden ist. Nach nur drei Spielen bei einer Weltmeisterschaft. Das gab es noch nie. Hoffnung gab es zwar bis kurz vor Schluss noch, so richtig begründet war die aber in der Retrospektive eigentlich nicht. Und klar, der DFB ist zum Produzenten eines Hochglanzproduktes verkommen, mit einer Kommunikationsstrategie wie eine Bananenrepublik. Eigentlich ist Deutschland aber Opfer des Systems geworden, bzw. der eigenen Ineffizienz.
Während alle Mannschaften versuchen das letzte Promille an Effizienz herauszuquetschen, Bewegen sich Ballbesitzmannschaften auf anderen Ebenen. Es geht viel mehr um Kreation als es im Effizienzfußball möglich ist. Und sowas kann nur schwer automatisiert werden, ist aber leicht automatisiert zu bekämpfen.
Ein Beispiel: Unser Immunsystem ist im Grunde genommen ein ganz simpler Apparat. Immer wenn irgendwas reinkommt, was nicht erkannt wird, kümmert es sich. Dabei spielt eigentlich keine Rolle, wo es reinkommt (etwa Atemwege oder Wunde) oder was reinkommt (etwa Schmutz oder Bakterien), für alles was da kommt, haben wir das richtige Rezept. Mal wird genießt, mal wird erst geblutet dann verkrustet und was auch immer. Außerdem lernt das Immunsystem ständig dazu, guckt genau hin, was beim letzten Mal geklappt hat, funktioniert nächstes Mal nicht mehr so leicht. Ein Virus muss sich mächtig was einfallen lassen um da durch zu kommen.
Ballbesitzmannschaften sind der Virus. Der Virus Deutschland versucht das Immunsystem tiefsitzender Konterteams zu knacken. Von Saudi-Arabien, Mexiko, Schweden und Südkorea. Die Tricks von vor vier, zwei oder einem Jahr funktionieren aber nicht mehr.
Düstere Zukunft?
Der Trend Effizienz-Fußball wird noch ein bisschen anhalten. Bayern München holt sich gerade mit Niko Kovač entsprechende Kompetenz ins Haus. Ich finde es traurig, glaube aber, dass Pep Guardiola nur überschaubar wenige Nachahmer findet. Richtig Erfolgreich sind Teams allerdings, die Effizienz kreativ einsetzen und mit Qualität mutig verbinden. Real Madrid holte so 4 der letzten 5 Champions League Titel. Jürgen Klopp begeistert seit Jahren. Ebenso Napoli und Tottenham. Die bewusste Wahl zur Aktivität, statt zur Passivität. Dabei weniger mit Blick auf Ballbesitz, sondern mit Blick auf die Spielgestaltung.
Denn im effizienzsüchtigen und datengetriebenen Fußball unserer Zeit, wird gern vergessen, dass aktive Spielgestaltung statistisch belegbare Vorteile mit sich bringt. Es ist effektiver das Spiel selbst zu gestalten, als es zu zerstören. Die Abhängigkeit zur Qualität ist dann aber höher, das macht’s schwierig. Aber potenziell Erfolgversprechend.
Deutschland sollte jetzt also nicht den Fehler machen und den Trend der WM so verstehen, dass Konterfußball der Bundesliga weiter verfeinert und ausgeweitet werden muss. Wenn in Deutschland aber einer Trends beobachten, verstehen und die richtigen Schlüsse daraus folgern kann (beziehungsweise dieses orchestrieren), dann ist das übrigens Jogi Löw. Ich glaube wir sind in guten Händen.
… und ich hoffe trotzdem, dass Hans-Dieter Hermann, der Team-Psychologe der deutschen Nationalelf, irgendwann mal ein Buch über diesen Sommer schreibt. Ich glaube da gibt’s viel zu lernen für Menschen die mit Team- und Sportpsychologie zu tun haben.
So lasse ich mir die Diskussion über das Ausscheiden der Deutschen gefallen! Widersprechen möchte ich dir eigentlich nur bei der ästhetischen Bewertung. Ich finde guten Konterfußball, gutes Pressing, sauberes Stellungsspiel und solide, coole Abwehrarbeit etc. genauso schön anzusehen wie Ballbesitzfußball. Wenn Nastasic seinen Job hinten links so unaufgeregt erledigt wie ein Buchhalter kurz vor Feierabend, kann mich das so begeistern wie eine gelungene Aktion von Toni Kroos! Im Gegenteil: Der Dominanzfußball von Barca zur Guardiola-Hochzeit war mitunter schwere Kost.
Einmal von der Seite versucht: Was ist grundsätzlich das Problem des dominanten Ballbesitzfußballs? Das eine ist die Offenheit für Konter, wenn man hoch aufgerückt ist. Dieses grundsätzliche Problem hat Guardiola und die Mannschaften in seiner Nachfolge mit der „Erfindung“ des Gegenpressings in den Griff bekommen. Warum das jetzt manchmal nicht greift, zum Beispiel bei der Nationalmannschaft, aber offensichtlich auch bei den Spaniern, ist mir nicht klar, wäre aber sicher eine interessante Debatte. Das zweite Problem des dominanten Ballbesitzfußballs (Hier müsste man übrigens wirklich noch unterscheiden: Es gibt auch eine Form von nicht dominanten Ballbesitzes. Die Hertha unter Dardai hat das mal eine Zeit lang ganz gut hingekriegt, oft auch Hoffenheim, wenn sie in Führung sind. Es wird viel hintenrum und weiträumig gespielt, das Ziel ist nicht Dominanz, sondern der Gegner soll nicht an den Ball, sich müde laufen, Räume öffnen etc.) ist, wie man Geschwindigkeit und Dynamik ins letzte Drittel, und dann in den Strafraum bekommt. Auch da hat ja der Konterfußball Vorteile. Man ist seltener im letzten Drittel, dafür aber immer mit Anlauf und Dynamik (abgesehen von dem Vorteil der offenen Räume). Die Spiele der Nationalmannschaft waren ja ein wunderbares Beispiel. Egal wie das Pressing des Gegners aussah (und sehr offensichtlich war das sehr unterschiedlich bei Mexiko, Schweden und Korea): Ins letzte Drittel zu kommen war für Deutschland nur eine Frage der Technik, nie ein Problem, sie haben sich immer den Gegner zurechtlegen können. Aber dann! Grundsätzlich gibt es hier, sehr vereinfacht gesprochen, zwei Möglichkeiten, das Problem anzugehen. Zum einen gibt es die individuelle spielerische Klasse, bei der Dynamik auf wenigen Metern erzeugt wird. Messi ist hierfür der Prototyp. In seiner besten Zeit, und immer noch, wenn auch nicht so konstant, kann er auf ganz engem Raum Dynamik erzeugen und wahlweise zwei Spieler ausspielen, oder mit einem Haken und einem kurzen Abschluss die entscheidende Aktion unmittelbar vor oder im Strafraum setzen. Iniesta ist ein anderes Beispiel. Robben und Ribery waren auf ihre Art und in ihrer besten Zeit aus diesem Grund Schlüsselspieler der besten Bayern der letzten Jahre. Burgstaller ist ein Beispiel für einen eigentlich sehr guten Mittelstürmer, dem aber für die hohe internationale Klasse der Antritt auf den ersten drei Metern fehlt. Auch ein Grund, weshalb Tedesco vom Ballbesitz abgekommen bist. Er hatte dafür einfach nicht die passenden Spieler.
Die zweite Möglichkeit, einen Gegner in seinem Strafraum zu knacken, ist ausgefeilte, und wiederum sehr schnelle Gruppendynamik. Das ist Deutschland vor vier Jahren gut gelungen. Mit Klose (Werner ist viel mehr ein Konterspieler und braucht Räume, weshalb er in seinen besten Szenen nicht in der Mitte stand, sondern dynamisch von Außen kam) und einem besseren raumdeutenden Müller hatten sie dafür auch noch die passenderen Spieler (mal abgesehen von Reus, keine Ahnung warum der so enttäuscht hat). Das ergänzende hereinrückende Element, das vor vier Jahren insbesondere Khedira mitgebracht hat, hat man in diesem Jahr nur kurz ansatzweise bei Goretzka im letzten Spiel gesehen. Warum Yogi Löw hier nichts Überzeugendes, Überraschendes anzubieten hatte, ist eigentlich erstaunlich. Letztlich kann man mit der besten Spielanlage kein Spiel gewinnen, wenn man überhaupt nicht in der Lage ist, Dynamik entweder einzeln oder in der Gruppe zu erzeugen. Die drei Spiele waren dafür ein wunderbares Lehrmaterial. Abgesehen vom Ballbesitz, die andere Frage ist: Muss man eigentlich derart ambitionslos sein beim Spiel gegen den Ball wie die deutsche Mannschaft? Hätte man nicht viel mehr Unsicherheit beim Gegner und eigene Chancen kreieren können, wenn man ihn höher und früher attackiert hätte? Da freue ich mich jetzt schon riesig auf Tedesco-Pressing.
Quo vadis? Belgien und Kroatien scheinen Teams zu sein, die durchaus Beides können, schnell kontern, aber auch selbst einem guten Ball spielen. Pragmatismus, physische Stärke, Geschwindigkeit und Dynamik, taktische Variabilität und Standards werden nicht nur bei der WM den Ausschlag geben. Nenne es gerne die Mourinhorisierung des Fußballs (oder Entguardiolisierung oder Zidanifizierung des Spitzenfussballs :-)), ich finde es weder falsch noch schlecht in der Entwicklung. Beim dominanten Ballbesitzfußball: Schauen wir mal, ob Guardiola doch noch mal ganz vorne landet. Und ganz gespannt bin ich auf Tuchel in Paris. Da werden wir sicher Antworten für den weiteren Weg bekommen.
In diese interessante Diskussion möchte ich auch einsteigen weil mich die WM-Spiele weitestgehend abgeschreckt haben.
Natürlich muss man erst einmal festhalten, dass es legitim ist das taktische Mittel des Tiefstehens mit zwei Viererketten vor dem eigenen Sechzehner auszuwählen und nur gelegentlich auf Konter und Standards zu setzen. Es ist eben eine Taktik die deutlich einfacher zu erlernen und umzusetzen ist, allerdings ist das Ganze dann oft recht furchtbar anzuschauen, explizit dann wenn zwei derartige Teams aufeinandertreffen. Dann hat man das Gefühl keine Mannschaft will eigentlich so richtig den Ball haben, da das per se als gefährlich angesehen wird. In dem Moment wird das Spiel ein Stück weit pervertiert.
In diesem Zusammenhang denke ich aber vor allem auch an die Diskussion die Mehmet Scholl vor rund einem Jahr mal versucht hat anzustoßen, die aber letztlich, vermutlich aus weltmeisterlicher Arroganz, nicht richtig geführt wurde. Er hat recht plakativ kritisiert, dass die heutige Trainergeneration „20 Systeme rückwärts furzen kann“ aber viel zu wenig Wert auf die individuelle Klasse im 1 gegen 1 gelegt wird, auch und vor allem im Jugendfussball. Und an diesem Punkt hat er, so finde ich, den Nagel auf den Kopf getroffen. Auch in den NLZs wird schon Ergebnisfußball gespielt, dabei wäre es wichtiger und weitsichtiger die Spieler vollumfänglich auszubilden. Um ein wirklich guter Dribbler (offensiver 1gegen1 Spieler) zu werden muss man es eben auch im Wettkampf versuchen, scheitern und lernen. Wenn aber schon im Jugendbereich jener zerstörerische (auf das Spiel des Gegners bezogene) Umschaltfussball gelehrt wird, dann brauchen wir uns nicht wundern dass wir keine Spieler mehr haben die „einen Gegner auf dem Bierdeckel nassmachen“.
Genau solche Typen hätte es aber gebraucht. Ich glaube jeder Fussballfan war von Belgiens Eden Hazard begeistert. Wie er manchmal aus dem Stand an seinen Gegenspielern vorbeigezogen ist und diese zu Statisten degradiert hat war schon Extraklasse. Solche Spieler braucht es, damit der Fussball nicht langweilig und extrem zufallslastig wird. Eine hohe Zufallslastigkeit ist nämlich die Folge des von Karsten beschriebene Spielstils (jedenfalls wenn beide Kontrahenten in spielen).
Na, den Artikel habe ich ja fast übersehen. Sträflich. Das ist einer der besten Analysen von Dir in einem eh‘ schon hochwertigen d’oeuvre. Die Halbwertzeit der ingame-Taktiken nimmt ja ständig ab, weil die Analysen so schnell und tief gehen und die Bewegung innerhalb der Branche so groß ist. Wenn Trainer, Betreuer und Spieler ständig wechseln, landet halt auch das Know-how schneller bei der Konkurrenz. Ein Ausweg aus dieser Taktik-„Verdichtung“ ist meiner Meinung nach individuelle Qualität, insbesondere: Schnelligkeit, Ballbehandlung/Passspiel und Spielverständnis. Auch ein Dilemma des schnellen, frühen und regelmäßigen Wechseln des Arbeitgebers ist, dass sich wenige Spieler nach vollständig fussballerisch entwickeln und einiges an Potential einfach nicht genutzt wird. Ich fände es toll, wenn Heidel/Tedesco eine Vereinstreue schaffen könnten, damit junge Spieler bei uns reifen und Klasse entwickeln. Das ist nämlich auch ein Erfolgsrezept von Real Madrid der letzten Jahre: Ein lange stabiles Team.