Der Halbfeldflanke & Friends Adventskalender 2020 zu unseren Lieblings-Schalkern. Heute mit Joël Matip von Annika Becker.

Es ist der 7. November 2009, der 12. Spieltag der Saison 2009/2010. Die Schalker Mannschaft reist als Tabellenvierter zum Schlauchboot von München, wo sie vom FC Bayern auf Tabellenplatz sechs empfangen werden. Louis van Gaal ist aufgrund dieses Saisonstarts als neuer Coach umstritten, er bietet auf, was der Kader hergibt mit Miro Klose, Luca Toni, Tymoshchuk und einigen bekannten Namen mehr.

Demgegenüber steht auf der anderen Seite Felix Magath in seiner vorletzten Saison auf Schalke. In seiner Aufstellung stehen Neuer im Tor; Bordon, Höwedes, Schmitz und Rafinha in der Abwehr; vorne drin Farfán, der oft im viel zu großen Trikot zu versinken scheinende Vicente Sánchez und natürlich Kevin Kuranyi.

Und dann wäre da noch das Mittelfeld. Mit Chritoph Moritz und … Heiko Westermann? (Auf der Acht?!?!?) Jedenfalls gibt es auf der Sechserposition an diesem Tag Joël Matip sein Bundesligadebüt. Und was für eins! Die Roten gehen 1:0 in Führung durch Daniel van Buyten, ausnahmsweise nicht per Kopf.

Matip ist später derjenige, der zum 1:1 Endstand trifft, nach einem Freistoß von Schmitz. Das Unentschieden ist am Ende alles andere als unverdient und das liegt auch an der Kontrolle aus dem defensiven Mittelfeld heraus.

Ich erinnere mich noch, wie ich das Spiel damals in einer muffigen Alte-Säcke-Kneipe in Hildesheim geschaut habe. Der Wirt war Bayernfan, also liefen deren Spiele immer. Ich war gerade relativ frisch von zu Hause ausgezogen, nach dem Abi ging es nach Hildesheim an die Universität.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal studieren kann. In einer Stadt so rotzig und grau, dass sie an manchen Tagen auch gut in den Pott passen würde. Ich aber wusste oft nicht, ob ich in diese Stadt passe. Am Ende wurden es trotzdem fünf Jahre.

Es war eine seltsame, schöne Zeit. Aber mit Fußball hatten die es da alle nicht so. Also jedenfalls nicht meine Freund*innen. Trotzdem lernte ich sehr viel über Fußball, las in den folgenden Jahren auf Taktikblogs, als diese vermehrt aufkamen.

Ärgerte mich, dass Schalke so selten vorkam. Freute mich, als Halbfeldflanke diese Lücke irgendwann stopfte. Und Joël Matip begleitete mich ruhig und verlässlich durch die Zeit, denn immer, wenn ich ihn spielen sah, war ich begeistert.

Geboren in Bochum Weitmar, wechselte er mit nur neun Jahren aus der Jugend des VfL Bochum in die Knappenschmiede. Kopfballtore nach Standards? Kann er, hat er ja gleich beim Debüt gezeigt und danach noch oft genug. Bei der WM 2014 traf er für Kamerun sogar mal mit dem Fuß.

Stellungsspiel und vorausschauendes Verteidigen? Absolut top, vor allem nachdem Huub ihn dauerhaft in die Innenverteidigung stellte, wo er das Spiel vor sich hat und lesen kann. Dass er nicht besonders wendig oder trickreich ist, ist auf dieser Position außerdem egal. Grätschen? Sind im Notfall auch richtig gut, braucht er aber so gut wie nie, weil er solche Situationen eben gar nicht erst aufkommen lässt.

Er kommt deshalb auch mit nur sehr wenigen Fouls aus und hat bisher in den knapp 420 Spielen seiner Karriere nur 42 gelbe Karten gesehen. Das ist wenig spektakulär, aber sehr, sehr sicher. Das Spektakuläre an Joël sind sein Spiel nach vorne und seine Bescheidenheit.

Bekloppterweise, denn immerhin geht es hier um Schalke, sind das auch die beiden Dinge, die ihm zeitweise quasi zum Verhängnis wurden, zumindest was die Beliebtheit bei einem Teil der eigenen Stadionbesucher*innen angeht.

Joël spielt in seinen Jahren auf Schalke immer wieder sehr scharfe, lange Pässe, die das gesamte gegnerische Mittelfeld zerteilen. Oder er läuft einfach mit dem Ball am Fuß nach vorn. Sein Antritt ist nicht der Beste, aber wenn er einmal ins Laufen kommt, ist er trotzdem schwer zu stoppen.

Horst Heldt hat diesen Aspekt seines Spiels irgendwann mal mit dem noch viel geschmeidigeren Lúcio verglichen. Das ist risikoreich, sorgt aber auch für Raumgewinn und Überzahl, wenn es gut geht und ist eine sehr seltene Qualität. Trotzdem bekommt er nicht so viel öffentliche Aufmerksamkeit, steht oft im Schatten seiner Mitspieler und es wirkt so, als sei ihm das auch lieber.

Eine Situation, die ich nie vergessen werde, ist sein kurioses Tor in der Champions League gegen den FC Basel 2013, das offensichtlichste Abseitstor, das ich je gesehen habe. Gefühlt waren das 20 Meter Abseits nach einem eigentlich von Basel geklärten Standard. Matip schob sichtlich irritiert ein, auf den Pfiff wartend, aber der kam nicht. Draxler wollte ihn danach zum neuen Mittelstürmer machen. Ich glaube, es war Joël ein bisschen peinlich. (Genommen haben das Tor trotzdem alle gerne, wer braucht schon Fairplay?)

Wenn seine Läufe oder Pässe aber mal nicht funktionieren (und von den Kollegen nicht gut abgesichert werden) entspringt daraus ein Konter für das andere Team. Im schlimmsten Fall führt das zu einem Gegentor. Das gibt dann plötzlich sehr viel unschöne Aufmerksamkeit und Aufregung.

Für manche offenbar Grund genug, einen Spieler der eigenen Mannschaft auspfeifen zu müssen. Sogar, wenn der keinen Fehler macht, sehr offensichtlich mit den Nachwehen von Verletzungen und im weiteren Verlauf auch mit eben diesen Pfiffen zu kämpfen hat.

Bei all den zwanzigtausend Schalketrainern der letzten Jahre setzt er sich immer durch, die Situation in Matips letzter Schalker Saison ist trotzdem vertrackt. Sein Vertrag läuft aus. Horst Heldt möchte unbedingt verlängern, ist aber selbst angeknackst. Sportlich geht es schleichend bergab.

Irgendwann wird klar, dass Heldt im Sommer 2016 durch Heidel abgelöst werden soll. Die letzten Monate seiner Amtszeit ist Heldt quasi eine lame duck, alle Verhandlungen ruhen. Matip fühlt sich im eigenen Verein durch die gestoppten Verhandlungen und die Pfiffe gegen ihn nicht mehr wohl, das sagt er später ganz offen, ist ja auch wirklich keine Überraschung.

Irgendwo in England lacht sich ein Kerl mit Pöhler Käppi und blendenden Zähnen einen Ast, dass er so einen Spieler für Umme bekommen kann. Aber immerhin hat er diesen Schalker zu einem Champions League Titel und zu einer Meisterschaft in der Premier League geführt. Das hat mich unfassbar für ihn gefreut!

Auch bei den Reds ist Joël keiner für’s große Rampenlicht, aber er ist wichtiger Bestandteil des Teams – mal neben Van Dijk, mal als dessen Ersatz, so wie im Moment – und er bekommt den Respekt, den er verdient.

Sein Spiel ist kontrollierter geworden. Die Läufe gibt es fast gar nicht mehr zu sehen und sein Passspiel ist jetzt dosierter. Liverpool baut häufig über die offensiven Außenverteidiger auf, da braucht es dann keine Pässe oder Läufe durch die Mitte. Er spielt jetzt also hin und wieder längere Bälle nach außen.

Außerdem hat sich der Fußball in den letzten Jahren auch noch mal beschleunigt. Die angesprochene fehlende Wendigkeit gäbe ihm gegen das nun fast allgegenwärtige Gegenpressing einen schweren Stand bei Dribblings durch’s Mittelfeld. Für Kopfballtore ist er aber immer noch zu haben. Oder für Torvorlagen im Champions League Finale.

Er ist ein positives Beispiel für die extrem gute Arbeit der Knappenschmiede am Anfang der 2000er. Und dafür, dass auch ruhiges Teamplay dich weit bringen kann. Er ist aber auch eines der vielen Beispiele dafür, wie weltmeisterlich der Geilste Club der Welt sich selbst ein Bein stellen kann. Oder auch gleich vier.

Ich war sehr traurig, als er den Verein verlassen hat. Gleichzeitig konnte ich es so gut verstehen. Aber wer weiß, vielleicht kommt er ja doch irgendwann wieder nach Hause.

Adventskalender 2020:
Lieblings-Schalker von Halbfeldflanke & Friends.

Geschrieben von Annika Becker

Annika ist in Essen geboren, eine Meisterin der Kulturwissenschaften und hat außerdem Kreatives Schreiben studiert. Fing ca. 2012 an sich durch das Lesen auf Spielverlagerung für Taktik zu interessieren. Ist seit 2019 beim Halbfeldflanke Podcast dabei und hin und wieder auch im Rasenfunk zu hören. Mehr von Annika zu lesen gibt’s auf Twitter (@Nikabe5).

Der Halbfeldflanke & Friends Adventskalender 2020: Lieblings-Schalker

1 Reply to “Tor 19: Joël Matip

  1. Ach Annika, Du schreibst mir aus dem Herzen.

    Joël ist auch einer meiner absoluten Lieblingsspieler der ‚Neuzeit‘, ein unfassbar toller Typ und Fußballer.
    Zugegeben: ich habe mich etwas reingesteigert, als er immer wieder Kritik von den Fans einstecken musste, die ihn wegen seiner Bewegungen oder sonstigen Eindrücken kritisiert hatten.

    Als er dann nach England ging, stand für viele ‚Experten‘ fest, dass Joël es mit seiner ‚Art‘ Fussball zu spielen dort niemals schaffen würde.

    Ich könnte Konfetti kotzen vor Freude über seine tolle Karriere, über seinen Erfolg auf der Insel.

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