Eigentlich war das Derby nach 45 Minuten vorbei. Nachdem die Mannschaften von Bosz und Tedesco eine Halbzeit lang gegeneinander gespielt hatten, schien es nur noch darum zu gehen, wie hoch der BVB gewinnen würde. Im ersten Teil unserer Analyse soll es darum gehen, wie Dortmund Schalke in einer halben Stunde völlig zerlegte. Ein zweiter Teil – mit Blick auf das unglaubliche Comeback – wird noch folgen.

Die beiden Aufstellungen

Schalke startete gegen die Schwarzgelben im 3-5-2. Karsten und ich hatten vor dem Spiel, nach der Bekanntgabe der beiden Teams, eher auf ein 3-4-3 mit Konoplyanka und Di Santo auf den Flügeln spekuliert. In so einer Formation hätten Meyer und McKnnie sich auf das Zentrum fokussieren können und über Di Santo und Konoplyanka wären den Schalkern Konter aus der Tiefe möglich gewesen. Also eher eine abwartende Spielweise, ein bisschen so ähnlich wie gegen Leipzig.  Doch die Schalker agierten deutlich proaktiver und aggressiver. McKennie und Konoplyanka schoben als Achter neben Meyer extrem hoch und so drangen ziemlich viele Spieler nach vorne.

Formativ gab es also das 3-5-2, bei den Spielern kam zunächst keiner der Rückkehrer zurück – weder Goretzka, noch Nastasic, und auch Harit und Embolo schafften den Sprung in die Startelf nicht. Ob da im Einzelnen die Fitness oder das taktische den Ausschlag gab, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall brachte Tedesco so eine ziemlich physische Elf aufs Feld und verzichtete mit Embolo auf den Akteur, der sich mit dem Pressing bis jetzt noch am meisten schwertut.

Die Dortmunder wiederum starteten im 3-4-3, sie spiegelten quasi die normale Formation der Schalker. Mit Sahin und Weigl hatten sie viel spielmachende Präsenz im Sechserraum, mit Guerreiro und Pulisic sehr offensive Außenverteidiger. Um die Tragweite der Umstellungen richtig fassen zu können, ist vielleicht ein Blick auf die generelle Spielweise des BVBs nötig.

Dortmund unter Bosz

Vorab: wer richtig viel über Bosz als Trainer beim BVB lesen möchte, dem sei dieser Artikel ans Herz gelegt, wer eine genaue Analyse der Probleme der letzten Wochen sucht, dem ist hier gedient. Was Bosz und Schalke betrifft, kann man auch nochmal auf halbfeldflanke-Analysen zu Ajax verweisen (Vorschau Rückspiel, Analyse Rückspiel) Das wichtigste fasse ich aber auch in den nächsten Absätzen zusammen.

Dortmund unter Bosz präsentiert sich defensiv mit gutem, häufig mannorientiertem Pressing, sehr gutem Gegenpressing und schwachen Absicherungen. Tedesco sprach in unserem Interview darüber, dass es wichtig ist, sich im Ballbesitz so zu staffeln, dass man auch bei Ballverlust gut abgesichert ist – gerade hier haperte es beim BVB. Offensiv setzte Bosz auf eine gute Ballzirkulation und außerdem band er die Außenverteidiger sehr viel ein. Sowohl tief im Spielaufbau, als auch hoch, bei der Vollendung der Angriffe.

Denn im letzten Drittel setzte der Niederländer bis jetzt vor allem auf viel Offensivpräsenz. Nicht nur die Außenverteidiger rückten auf, auch die Achter, im von Bosz meistens aufgestellten 4-3-3, unterstützen gerne mal. Das führte dann häufig zu den oben angeführten Absicherungsproblemen. So folgte dann auf einen fulminanten Saisonstart eine Reihe von Niederlagen, in deren Verlauf die Dortmunder immer hektischer und wirrer agierten.

Doch im letzten Spiel gegen Stuttgart gab es trotz der Niederlage einige Lichtblicke. Der BVB zeigte mehr Bewegung im letzten Drittel, Götze belebte die Offensive, vor allem an Ruhe schien es der Mannschaft zu fehlen. Doch auf den Fortschritten baute Bosz auf und mit der Dreierkette löste er die Absicherungsprobleme.

Auf den Halbpositionen agierten beim BVB mit Toprak und Schmelzer zwei sehr clevere Spieler, die von Physismonster Sokratis abgesichert wurden. Die drei sich defensiv gut ergänzenden Spieler blieben immer hinten und auch von der Doppelsechs Sahin-Weigl hielt sich immer einer zurück und auch der andere stürmte nicht einfach bis in den Zehnerraum. Bei den drei vorderen Spielern drifteten Götze und Yarmolenko meist im Raum zwischen Schalker Abwehr und Mittelfeld umher, während Aubameyang die Abwehr auf ganzer Breite nach Lücken ablief, unterstützt von den sehr offensiven Guerreiro Pulisic. So hatte Dortmund eine bessere Absicherung, viel Offensivpräsenz und schuf über Sahin, Weigl und besonders Götze sehr gute Verbindungen zwischen Offensive und Defensive aber auch zwischen linker Flanke, Mitte und rechter Flanke.

Schalker Zugriffsprobleme

Das Schalker Pressing wurde von uns in dieser Saison sehr gelobt. Doch in dieser ersten Halbzeit konnte es komplett ausgehebelt werden. Das lag an der wie angedeutet sehr starken Dortmunder Offensiven, aber auch an einigen Umsetzungsproblemen

Vorne liefen Di Santo und Burgstaller die BVB-Verteidiger meist sehr aggressiv an. Da die aber zu dritt, und nicht zu zweit waren, konnten sie eigentlich sehr stabil einen der Halbverteidiger (hauptsächlich Schmelzer) freispielen. Auf den rückte dann einer der beiden Achter. Das Problem war, dass Konoplyanka und vor allem McKennie dabei nicht immer gutes Timing zeigten. Häufig rückten sie zu spät und dann zu aggressiv raus – sie erzeugten damit zwar keinen wirklichen Zugriff mehr, aber öffneten den Raum hinter sich. Teilweise kam es dabei sogar zu 5-1-4 Staffelungen aber auch sonst war Schalke alles andere als stabil.

Hie rückt McKennie auf Schmelzer, den Di Santo von hinten anläuft. Burgstaller hat sich bereits ins Zentum zurückgezogen, wenigstens den Sechserraum ließ Schalke selten offen. Doch am rechten Flügel der Königsblauen hat sich hier – im Halbraum – ein Loch gebildet (schwarzer Kreis), in das sich Götze und Sahin bewegen. Guerreiro startet hinter die Abwehr und Aubameyang hält sich gleichzeitig für Anspiele bereit und kann die Abwehr etwas binden. Gute Mischung aus Bewegungen zum Ball hin und vom Ball weg – man kann kombinieren und daraus Gefahr entwickeln.

Meyer hat in dieser Szene ein ziemliches Problem. Im Gegenpressing schaffte er es teilweise noch durch gedankenschnelles Handeln riesige Löcher zu verteidigen, doch gegen eine kontrollierte Ballzirkulation wird das schwieriger. Bleibt er zentral, so kann Dortmund im Halbraum ungestört kombinieren, doch schiebt er rüber, so öffnet er den Schalker Sechserraum, den Konoplyanka nicht mehr rechtzeitig schließen wird. Nicht nur beim Rausrücken, auch beim Nachschieben zeigen die königsblauen Achter Schwächen. Vielleicht könnte eine lenkenden Spielweise hier irgendwie noch ermöglichen, die Lücken zu schließen, doch Tedesco hat den Schalkern das aggressive Anlaufen eintrainiert.

Die Szene hat sich inzwischen weiterentwickelt. Die Versuche der Schalker noch irgendwie Zugriff auf das Kombinationsspiel der Dortmunder zu erzeugen, haben es diesen erlaubt, Abwehr von Mittelfeld zu trennen. Der Zwischenlinienraum ist komplett offen. Yarmolenko und Guerreiro zwingen mit ihren Läufen die Abwehr nach hinten. Stambouli rückt hier zwar schlussendlich doch raus, kann aber Aubameyang nicht mehr in einen Zweikampf verwickeln. Durch den offenen Raum kann jener den ziemlich freien Pulisic anspielen.

Die problematische Rolle der Achter, und das eher auf eine Viererkette ausgerichtete Angriffspressing, reichen aus, um Dortmund das kleine Loch zu öffnen, das sie brauchen, um durch gute Bewegungen und schnelle Kombinationen die Schalker Defensive mustergültig in ihre Einzelteile zu zerlegen. Pulisic spielt ins Zentrum und der mitgesprintete Aubameyang drückt über die Linie – Tor, 1:0.

Schalke versucht es in der Folge, taktik-psychologisch naheliegend und eigentlich ja auch bewundernswert, über noch mehr Aggressivität, doch dadurch öffnen sich noch mehr Räume. Ein Offensivspektakel, dem ein bisschen ähnliche Prinzipien zugrunde lagen wie Deutschlands Sieg über Brasilien 2014, nimmt seinen Lauf und nach einem Konter, einem Standard und einem weiteren schön erspielten Tor scheint Schalke völlig zerstört. Ein wichtiger Grund wieso Schalke nach dem 1:0 nicht über Spielkontrolle, sondern über Aggressivität zurückkommen musste, lag bei Schwächen im eigenen Ballbesitzspiel.

Das Schalker Loch und andere Offensivprobleme

Vor einigen Monaten widmete ich ihm einen Artikel, jetzt ist es wieder aufgetaucht: das Loch im Schalker Mittelfeld. Es schwächte unseren Spielaufbau und erlaubte den Dortmundern, ihn gänzlich zu ersticken.

Der Knackpunkt in der obigen Szene ist das riesige Loch um Meyer herum. Gegen drei Dortmunder konnte er zwar weiterhin unetrstützen und einzelne Situationen auflösen, aber kaum Verbindungen nach vorne schaffen. Dadurch blieb für Schalke eigentlich nur noch der Weg über die Außen. Hier spielt Kehrer den Pass auf Oczipka, Yarmolenko hat ihn zuvor angelaufen und bedrängt nun den Außenverteidiger von hinten. Pulisic kommt aus dem Zentrum geschossen, wo er den Passweg auf Konoplyanka zu machte. Aubameyang kann bequem Meyer bewachen.

Es kann für Schalke also nur auf dem Flügel weitergehen, weswegen Konoplyanka auch dorthin rausrückt. Da Weigl zentral von Sahin abgesichert wird, kann er ihm dorthin jedoch einfach folgen. Spiel Oczipka nun Konoplyanka an, so wird sich Pulisic von ihm lösen und den Ukrainer von hinten bedrängen. Immer kann der BVB die Königsblauen mit mindestens zwei Mann bedrängen und immer bleibt der Weg ins Zentrum versperrt. Natürlich kann auch einer der Stürmer noch auf den Flügel raus und so kann sich Schalke auch immer wieder nach vorne quälen. Spätestens dort ersticken die Angriffe dann aber in isolierten Situationen.

Ein Grund dafür lag auch bei den Personalien in der Schalker Offensive. Burgstaller ist meiner Meinung nach ein sehr guter Unterstützungsspieler für ein Kombinationsspiel, alleine aufziehen kann er es jedoch nicht. Über Di Santos Probleme im Offensivspiel habe ich erst kürzlich einen Artikel geschrieben. Konoplyanka kann bei guter Einbindung auch spielerisch was zeigen, muss er aber den Spielaufbau schultern, so kann das sehr, sehr mäßig aussehen. McKennie hat durchaus kreative Ansätze, agiert vielfach allerdings auch sehr unüberlegt.

Niemand in der Schalker Offensive konnte also wirklich viel Kreativität einbringen oder gar als Verbindungsspieler agieren, wodurch die Spieler sehr isoliert blieben und gute Ansätze mangels Unterstützung im Sande verliefen. Die Schalker waren also lange defensiv wie offensiv ohne Zugriff auf die wichtigen Räume und ohne Anbindung zueinander. Zwischenzeitlich wurde sogar auf das 3-4-3 umgestellt, doch die personellen und mentalen Probleme verhinderten einen wirklichen Effekt.

Die frühen Wechsel

In der 33. Minute brachte Tedesco Goretzka und Harit für Di Santo und McKennie. Ab da begann das Spiel zu kippen. Zunächst noch nicht so eindrucksvoll, doch die Veränderungen wurden schon im letzten Drittel der ersten Halbzeit sichtbar. Hatte Dortmund von der ersten bis zur 33. Minute noch 69% Ballbesitz, so hatte von der 33. bis zur letzten Minute Schalke 65% Ballbesitz.

Ein wichtiger Baustein war die Umstellung vom 3-5-2 auf das 3-4-3, die schon zuvor vorgenommen wurde, aber erst jetzt wirklich anfing langsam Wirkung zu zeigen. Dazu werden wir im zweiten Teil noch einiges mehr lesen. Etwas ausführlicher will ich jedoch auf ein paar offensive Aspekte eingehen.

Die Dortmunder hatten es nun im Pressing nicht mehr so bequem – aufgrund der erhöhten Präsenz der Schalker im eigenen Sechserraum, wo sich nun Goretzka und Meyer bewegten, konnten die Königsblauen die schwarzgelbe Defensivformation etwas besser auseinanderziehen. Das bot Stambouli Möglichkeiten Harit anzuspielen, der sich in den Halbräumen klug anbot.

Oben ist gerade der Pass von Stambouli (grau) erfolgt. Guerreiro attackiert nun Harit von hinten, Weigl sperrt ihm den Weg nach vorne zu, Sahin sichert hinter ihm ab. Entscheidend ist hier die Rolle Goretzkas, der aus der Tiefe herangesprintet kommt. Harit kann ihn anspielen und löst sich in den Raum hinter Weigl. Elegant löst Goretzka die Situation auf, entzieht sich dem Zugriff seiner Gegenspieler und treibt den Ball nach vorne.

Dieses Zusammenspiel von Goretzka, Harit und Stambouli war einer der Grundsteine des Schalker Comebacks. Pefekt wurden hier Stamboulis Übersicht, Harits Technik und Goretzkas Fähigkeit dynamische Situationen zu erzeugen, zu deuten und auszuspielen eingebunden und kombiniert. Schon in der ersten Halbzeit kam Schalke dadurch in einige extrem offene Situationen, die zwar nicht zu Torschüssen führten, die aber dennoch brandgefährlich waren. Dennoch: als der Halbzeitpfiff erfolgte, konnte sich wohl kein Schalker Fan wirklich über schöne Halbraumkombinationen freuen, denn die Schalker Ansätze schienen nicht mehr zu sein als Tropfen auf den heißen Stein. Dennoch, auf diesen Ansätzen baute Tedesco in der zweiten Halbzeit grandios auf.

Die Analyse Mini-Serie zum Jahrhundert Derby-Sieg, 4:4:

10 Replies to “Derby Extrem. Teil I: Die Katastrophe, Borussia Dortmund – FC Schalke 04, 4:0

  1. Ihr seid gigantisch. Danke dafür. Aber bitte wo belibt Teil 2??? Das Warten darauf ist so spannend, wie das ganze Derby.

  2. Das Pressing hat in den ersten Minuten sehr gut funktioniert. Die Idee hoch zu pressen war schon wegen der spielerischen Schwächen Weidenfellers eine gute. Der BVB ist in der Anfangsphase nicht in die gegnerische Hälfte gekommen, die Großchance von Kono war ein direktes Resultat des starken hohen Pressings. Knackpunkt war die völlig überzogene frühe gelbe Karte gegen McKennie. Danach war die Irritation insbesondere beim Texaner groß. Und erst dann konnte der BVB die Linien der Schalker durchbrechen.

    1. So richtig beeindruckend fand ich die Großchance von Konoplyanka nicht. Im Prinzip ist so ein kurzfristige Überlegenheit der pressenden Mannschaft in der Anfangsphase ein häufigeres Phänomen. Ballbesitzspiel braucht eventuell einfach länger, bis es sich eingegroovt hat.
      Dennoch hast du Recht, ich hätte die ersten fünf Minuten zumindest erwähnen sollen 🙂

      1. Er hätte nur lupfen müssen. Angesichts der Tatsache, dass danach beim BVB jede Chance ein Treffer war, war diese Chance von keiner schlechteren Qualität.

        Gut, dass Du die 5 Minuten nicht erwähnt hast, dann hätte ich ja nichts mehr zum Klugscheissen gehabt. Nichts schlimmeres als perfekte und gleichzeitig noch vollständige Artikel!

  3. Super! So klar und anschaulich konnte mir noch niemand unsere Schwierigkeiten mit dem unerwarteten Dortmunder 3-4-3 und die taktischen (und nicht nur personellen) Vorzüge des frühen Doppelwechsels erklären. Diese Halbzeit will man nicht gern noch einmal erleben, aber Du und Karsten machen die Nachbetrachtung nicht nur erträglich, sondern sogar sehr interessant.

    Jetzt stellt sich mir nur die Frage, ob Stambouli nicht vielleicht davon profitieren würde, immer zwei Sechser vor sich zu haben. Das offensive Fünfeck kommt ja eher Meyer zugute, weil es ihm mehr Anspielstationen gibt. Die Kehrseite, dass die Spieleröffnung aus der Abwehr in dieser Formation eher schwieriger wird, war mir noch gar nicht so bewusst.

    Deswegen ist Eure Arbeit so wertvoll: Wir lernen dazu!

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