Während der Länderspielpause im November traf ich Domenico Tedesco zum Interview und Gedankenaustausch. Er schob seinen bereits überladenden Terminkalender zusammen und so saßen wir im neuen Profitrainingstrakt auf dem Vereinsgelände zusammen. Der Schalke Head Coach zeigte sich sehr nahbar und wir diskutierten im Detail über die taktische Ausrichtung von Schalke 04.

Halbfeldflanke: Wie sieht für Sie optimaler Fußball aus?

Domenico Tedesco: Meine Vision ist es, so Fußball zu spielen, dass der Gegner immer eine Bewegung macht und diese dann abbrechen muss. Ich will den Gegner eigentlich permanent auf dem falschen Fuß erwischen.

Hinsichtlich der Spielsituationen unterscheiden wir in vier Phasen: Ballbesitz, gegen den Ball, Umschalten nach Ballgewinn und Umschalten nach Ballverlust. Jede Mannschaft dieser Welt kann man mit Hilfe dieser vier Phasen kategorisieren. Zwar muss jede Mannschaft das Spiel in allen vier Phasen beherrschen, aber sie werden immer Akzentuierungen setzen. Die Fragen sind also nicht: Was lasse ich weg? Worauf konzentriere ich mich ausschließlich? Sondern: Was akzentuiere ich besonders?

Die vier Phasen eines Fußballspiels nach Louis van Gaal.

Halbfeldflanke: Und? Was möchten Sie besonders akzentuieren?

Domenico Tedesco: Losgelöst von Schalke möchte ich gerne die Umschaltmomente in beide Richtungen akzentuieren. Ich finde, wer die Umschaltmomente kontrolliert, der kontrolliert Fußballspiele, der gewinnt in den meisten Fällen Fußballspiele.

Trotzdem ist es beim Umschalten nach Ballverlust enorm wichtig dich im Ballbesitz schon so zu positionieren und eine solche Raumaufteilung zu haben, dass du bei Ballverlust gut stehst. Du musst dir da eine ganze Menge Fragen stellen und beantworten. In wie weit machen die Außenverteidiger Offensivaktionen mit? Wie positioniert sich der ballnahe Außen, wie der ballferne? Wie schalten sich die 6er ein? Wenn wir mit einer 6 spielen: Wann kann er nach vorn gehen, wann muss er in der Defensive bleiben? Und wenn er nach vorn geht, wie verhält sich der ballnahe 8er? Wie der ballferne?

In meinem Kopf habe ich das Bild einer Waage, es geht immer um die Balance. Manchmal neigt sich die Waage offensiv und manchmal ist sie eher ausgeglichen. Es geht natürlich ums Ergebnis, das ist klar, wir möchten da nichts herschenken.

Zur Frage der Akzentuierung bei uns: Wir wollen eine gute Balance haben. Wenn du die Umschaltmomente kontrollieren willst, dann brauchst du bei Ballverlust zuvor den beschriebenen „guten Ballbesitz“ und bei Ballgewinn ein gutes Pressingverhalten.

Halbfeldflanke: Diese Waage finde ich ein interessantes Bild. Überlegen Sie sich dann vor einem Spiel die Akzente gesetzt werden sollen?

Domenico Tedesco: Ja, genau. Das ist natürlich abhängig vom Gegner, zum Beispiel von deren Umschaltverhalten. Wir versuchen immer gewisse Muster raus zu filtern und anhand dieser Muster unsere Restverteidigung und unser Ballbesitzspiel zu organisieren, ohne uns dabei allerdings komplett zu verändern.

Wir haben dabei Prinzipien, klar definierte Säulen unseres Spiels, die uns ausmachen. Das ändern wir nicht. 80 bis 90 Prozent unseres Spiels sind davon bestimmt, die restlichen 10 bis 20 Prozent sind abhängig vom Gegner. Da können auch andere Faktoren eine Rolle spielen, der Platz etwa oder das Publikum. Wir lassen alles Relevante einfließen.

Wenn wir einen Gegner analysieren, dann analysieren wir vor allem die Spiele, die unserer nächsten Partie nahe kommen, etwa Auswärts- oder Heimspiele. Du merkst da schon Unterschiede. Im Umschaltspiel oder bei der die Höhe des Pressings. Viele Mannschaften stehen auswärts etwas tiefer als zuhause..

Halbfeldflanke: Wie klar ist Ihre Vision von Schalkes Spiel auf lange Sicht?

Domenico Tedesco: Zu weit nach vorn können wir nicht blicken. Wir wissen zwar schon sehr genau wo wir hin wollen, aber wir müssen trotzdem immer kurz und mittelfristig die Balance zu finden.

Denn eine Vision ist schön und gut, die wichtigere Komponente sind aber immer die Spieler. Wir müssen unseren Weg finden. Wir haben einen guten Kader, dem wir vertrauen, gute Spieler, die für Schalke wichtig sind.

Halbfeldflanke: Sind Sie zufrieden mit dem wie die Mannschaft sich zurzeit entwickelt?

Domenico Tedesco: Absolut. Wir werden cleverer, raffinierter. In gewissen Situationen gewinnen wir jetzt Bälle, die wir vor vier, fünf Wochen vielleicht nicht erobert hätten. Oder machen Tore, die wir vielleicht nicht gemacht hätten.
Auch wenn zuletzt in Freiburg sicher Glück dabei war. Wir haben das Spiel natürlich analysiert und da waren ein paar Szenen dabei, die mir richtig gut gefallen haben, wenn es darum geht Torgefahr aufzubauen.

Außerdem bekommen wir wenig Gegentore. Wer sich unsere Spiele genau anschaut, sieht, dass wir zwar zu Null spielen, aber nicht mauern. Das ist mir wichtig. Aber klar ist: In kleineren Phasen des Spiels oder gegen sehr starke Gegner stehen wir auch mal tiefer.

Wir versuchen diese Passivität und diese Phasen des Tiefstehens kurz zu halten. Das wirst du aber nie auf Null senken können, weil du natürlich auch mal durchschnaufen musst. Im Tiefstehen geht der Puls am besten runter. Sogar noch schneller als bei Ballbesitz. Das geht gar nicht anders.

Halbfeldflanke: Das ist ja interessant. Berücksichtigen Sie sowas in eurem Matchplan?

Domenico Tedesco: Nee, das nicht. Aber wir wissen, dass wir das zwischendurch auch machen müssen. Es wird immer mal Phasen geben, in denen wir sagen: Jungs, jetzt mal zwei, drei Minuten durchschnaufen. Die Ansage kommt manchmal von außen, aber die Spieler erkennen das auch selbst.

Halbfeldflanke: Verstehe. Wie zufrieden sind Sie denn zum Beispiel konkret mit dem Pressing?

Domenico Tedesco: Wir haben mit Franco Di Santo und Guido Burgstaller zwei die richtig malochen. Benjamin Stambouli hat gesagt: „Das ist unmenschlich was die laufen!“ (lacht) Diese Aufopferung ist enorm wichtig. Wenn wir Ballbesitzfußball spielen wollen, müssen wir ja schließlich den Ball auch erobern.

Wenn ich an das Thema Vision denke, gehört auch dazu, dass wir diese Pressingzeiten durch eigenen Ballbesitz weiter minimieren. Und dann den Ball kontrollieren, damit dann ja auch den Gegner kontrollieren, den Gegner bewegen. Räume frei kriegen und dann explodieren. Und dafür brauchst du halt ein gutes Pressing.

Halbfeldflanke: Was mir beim Schalker Spiel zur Zeit gut gefällt ist, dass das Ballbesitzspiel nicht zum Selbstzweck verkommt, sondern genutzt wird Möglichkeiten zu finden steil nach vorne zu spielen.

Domenico Tedesco: Ja, unbedingt. Wir wollen den Ball haben, um Räume zu generieren, die wir dann für unsere Vertikalität nutzen können. Das meine ich auch mit den Gegner auf den falschen Fuß erwischen.

Halbfeldflanke: Herzlichen Dank für das interessante Gespräch und viel Erfolg weiterhin.

Domenico Tedesco: Gerne. (grinst)

 
Das Interview führte Karsten Jahn.

Auf Spielverlagerung gibt es ein Tedesco Interview, welches dieses hier praktisch nahtlos fortführt. Unbedingte Leseempfehlung.
Referenziert wurde auf dieses Interview bei Spiegel Online, Schalke-News.

Über Hintergründe zum Interview berichtet Karsten im Blauer.Salon Podcast.

26 Replies to “Ein Interview mit Domenico Tedesco: Ich will den Gegner auf dem falschen Fuß erwischen!

  1. Ritter Karsten 🙂
    tolle Sache und schön, dass unser Trainer diese klare und nachvollziehbare Vision hat. Und Dir dann noch das Wasser reicht
    gruss
    a

  2. Klasse! Glückwunsch, Sir Karsten!
    Die Schilderungen im blauen.salon fand ich schon spannend. So ein Interview hat Tedesco bestimmt auch mehr Spaß gemacht als ein WAZ oder Bild Interview.
    So ein Interview, die taktische Entwicklung des Spiels und auch so Sachen wie dass Tedesco laut Sportbild letzte Woche Fischer, Thon, die Kremerszwillinge, Anderbrügge, Büskens, Asamoah, Max, Abramczik und Schipper ins neue Profileistungszentrum eingeladen und einfach über Schalke gesprochen hat und wie die aus ihrer Perspektive die Entwicklung unter ihm sehen, macht mich ganz freudig, dass wir vielleicht mal nen echten Trainer-Voltreffer gelandet haben (wir…, also Heidel – mal wieder).

  3. Wow! Auch von mir Glückwunsch dass du diese Möglichkeit bekommen hast, verdienter Lohn! Danke für das interessante Gespräch.

  4. Respekt! Endlich mal ein Trainer-Interview das Spaß macht zu lesen und das sich nicht mit dem üblichen Blabla beschäftigt.
    Danke!

  5. Noch vollendeter wäre das schöne Interview, wenn ein paar Kleinigkeiten aus dem Weg geräumt würden:

    1) „Trotzdem ist es beim Umschalten nach Ballverlust enorm wichtig….“. Muss es nicht heißen: „Trotzdem ist es beim Umschalten nach Ballgewinn enorm wichtig….“
    2) „Inwieweit machen die der Außenverteidiger…“. Bitte nur „die Außenverteidiger“
    3) „dann brauchst Du….bei Ballgewinn ein gutes Pressingverhalten.“ Muss es nicht heißen „bei Ballverlust“. Ansonsten fände ich den Satz noch etwas erklärungsbedürftig.

    Danke

    1. Zu 2): Korrigiert. Danke für den Hinweis. 🙂

      Zu 1) und 3): Das ist schon genau so gemeint wie es da steht. Vielleicht habe ich die Sätze etwas krude aufgebaut, Sorry. Worum es ihm geht ist, dass Du bei Ballbesitz schon ans Pressing denkst und umgekehrt. Du brauchst ein gutes Pressingverhalten, damit Du den Ballgewinnst, das ist klar. Tedesco will aber den Umschaltmoment beherrschen. Und das machst Du, indem Du Dich im Pressing schon so organisierst, dass Du nach Ballgewinn direkt steil gehen kannst. Ergibt das so Sinn für Dich?

  6. So verstehe ich Dich, und ich hatte mir schon gedacht, dass Tedesco das auch so meint. Im Text selbst finde ich das aber nicht so verständlich. „Trotzdem ist es beim Umschalten nach Ballverlust enorm wichtig dich im Ballbesitz schon so zu positionieren“ Wenn Du Ballverlust erlitten hast, dann bist Du nicht „im Ballbesitz“. Also muss es doch heißen „für den Ballbesitz“. Dann macht es aber wieder keinen Sinn, dass es heißt „dass Du bei Ballverlust gut stehst.“

    Diese Paradoxie, im Defensiven offensiv denken und umgekehrt, die käme doch auch beim Satz „Trotzdem ist es beim Umschalten nach BallGEWINN enorm wichtig dich im Ballbesitz schon so zu positionieren und eine solche Raumaufteilung zu haben, dass du bei Ballverlust gut stehst.“ So wie es da steht, ist mir das eine Umdrehung zu viel. Ich möchte hier nicht Besserwisserisch sein, aber ich mag eigentlich gerade das einfach Verständliche an Deinen Texten. Hier ist es mir ein bisschen zu viel durch die Brust ins Auge.

    1. @ES

      Der Satz der dir da etwas schwer fällt: „Trotzdem ist es beim Umschalten nach Ballverlust enorm wichtig dich im Ballbesitz schon so zu positionieren und eine solche Raumaufteilung zu haben, dass du bei Ballverlust gut stehst.“

      Ich denke Tedesco will sagen, dass die Mannschaft sich auch während ihres Ballbesitzes schon so positioniert, dass sie im Falle eines Ballverlustes diesen schnell ausgleichen kann und nicht überrannt wird.
      Also für eine gutes Umschalten nach Ballverlust ist es enorm wichtig VORHER (also in Ballbesitz) schon gut positioniert zu sein.

      Insofern ist die Formulierung schon korrekt

      1. Danke Dir fürs nochmalige Erläutern. Du bringst es auf den Punkt. Die Formulierung ist immer noch nicht korrekt (weil der Sprung in der Zeitlichkeit nicht eingebaut ist). Durch Deinen Kommentar hätte ich eine Idee, wie man es umformulieren kann, dass es verständlich wird. „Trotzdem ist es beim Umschalten nach Ballverlust enorm wichtig, dass Du Dich vorher im Ballbesitz schon so positioniert und eine solche Raumaufteilung hast, dass Du bei Ballverlust gut stehst.“ Dann ist es klar.

        Entsprechend wäre auch der Satz verständlicher „Wenn Du die Umschaltmomente kontrollieren willst, dann brauchst Du ….VOR Ballgewinn gutes Pressingverhalten.“

      2. Oder: „Trotzdem ist es beim Ballbesitz enorm wichtig dich so zu positionieren und eine solche Raumaufteilung zu haben, dass du bei Ballverlust gut stehst.“ Inhaltlich kann man das ja auch einfach so sagen.
        Dummerweise redet man eben meistens konfuser und Karsten wollte sicher das was Tedesco sagt, nicht zu sehr überarbeiten 😀

    2. Ok., ich verstehe, Originalton. Jetzt ist der Sinn ja klargestellt. Von mir aus brauch der Tedesco nicht druckreif zu texten, wichtig is aufm Platz.

  7. Weshalb geht unter, dass Du mit dem Schalke-Trainer nun per Du bist? Der Herr Doktor möchte wohl den Eindruck der Seriösität aufrecht erhalten, was?!

    Ich habe das Interview gerne gelesen. Ich hätte auch sehr gerne gelesen, wie das Treffen so war, wie es sich anfühlte, wie Deine Eindrücke abseits des gesprochenen Wortes über Taktik waren. Ich verstehe, dass Du Dich für Dein erklärtes Taktikblog zu dieser Variante entschlossen hast. Schade ist es dennoch.

  8. Moin!
    Klasse Interview, Danke!
    Bzgl. des letzten Kommentars: von welchem Podcast ist hier die Rede? Würde mich sehr interessieren!
    Gedankt!

    1. Erst gucken, dann schauen. Sorry für die blöde Podcast-Frage, das Lob für das Interview bleibt und wird erweitert um ein großes Lob und Dankeschön für die Seite…

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